Seite 1 von 1

Die Geschichte von den zwölf Winden

Verfasst: Fr Nov 08, 2024 11:18 pm
von Gwynn
Die Geschichte von den zwölf Winden


Jeder einzelne von Euch kennt die Leidenschaft.

Ich bezweifle, daß Ihr alle die Liebe kennt, denn echte Liebe ist ein Geschenk und seltener als die Menschen annehmen. Die Leidenschaft jedoch, jenes schmerzhafte Aufwallen des Pulses, jenes jähe Brennen im Herzen, große Unruhe, Trauer und drängende Gier, sie kennt jeder. Auch die Liebe kann so sein, ja. Aber Leidenschaft entsteht in einem Moment, kürzer als eine Wasserpfeifers Flügelschlag, sie entsteht aus einem Blick, einer Geste, einem Lachen und sie ist fordernd und selbstsüchtig. Ich gebe zu, die beiden Basen sind oft nicht leicht zu unterscheiden.

Selbst die Götter können das nicht immer.


Einst badete Dondra, der Riese der Götter, in der Bucht, die Ihr heute die Bucht von Aldwa ruft oder Dondras Becken oder bei vielen anderen Namen. Zu jener Zeit pflegte Dondra tatsächlich in riesenhafter Gestalt über unsere Welt zu ziehen, begleitet von ebenso riesenhaften Adlern. Die Bucht, die Euer Schifflein heute in einem Lichtmond von Thalassim bis zum offenen Meer durchmißt, reichte gerade aus, um ihn von der salzverkrusteten Mähne bis zu den schwieligen und muschelbesetzten Sohlen aufzunehmen. Wo heute Aldwa liegt, stand sein Trinkpokal und auf Kap Deløribon und Kap Markat saßen die Adler und schlugen mit den Flügeln, um das Gleichgewicht zu wahren und einen Dondra gefälligen Wind zu erzeugen. Nein, das ist falsch, denn ihre Schwingen erzeugten gar keinen Wind. Die Luft war zu dünn, ihren Schwingen zu antworten und nicht der Wind war es, der sie schweben ließ. Andere Kräfte hielten damals die Welt zusammen.

So lag Dondra gemütlich im Wasser und füllte seinen Pokal aus dem Ajennil, dem Fluß der reinen Mündung, trank und sah mit Wohlgefallen auf seine Adler. Die aber hatten mit ihren scharfen Augen etwas erspäht.

Weit im Landesinneren werkelte ein kleine Frau mit weißblondem Haar, kleiner vielleicht als Ihr, die mit winzigen Schritten das Land durchmaß, doch aus jedem ihrer Tritte wuchs ein Baum, lauter verschiedene Bäume, hohe, breite, kurze, schmale Bäume, Hoschgs und Älskitasträucher, Steinholzbäume und Sumpftolks und noch andere, die mit der Zeit verlorengingen oder auswanderten. Mit ihren zarten Tapsern kam sie jedoch unglaublich schnell voran. Hatte sie eben noch diesseits des Höngwir Gedan Ebereschen auf die Höhen gepflanzt, sproß im nächsten Moment ein Ring von Eichen dort, wo heute Wolfsruh liegt und einige Pulsschläge später ließ sie viele, viele Wegstunden weiter ein buntes Gewimmel unterschiedlichster Stämme emporwachsen. Noch heute ist die Gegend um Waldhausen für ihre Vielfalt an Hölzern bekannt.

Dondra hatte sich im Becken umgedreht und mit einem großen Wasserschwall die Kaps überschwemmt, so daß die Adler aufgestiegen waren und über ihm weiter die Frau beobachteten, auf der nun auch Dondras Blick ruhte und zwar mit Wohlgefallen. Daß sie keine einfache Frau sein konnte, war klar und nicht nur, weil damals unser Land noch menschenleer war und eine Spielwiese anderer Mächte. Doch erkannte er nicht, wer sie war und sah deshalb zunächst nur weiter nach ihr, wie sie Grasbüschel, Sumpf und öde Flecken gleichermaßen in Wald verwandelte. Schließlich aber, als sie allmählich näher an sein Becken heranrückte, ließ er Donner rollen – und wenn ich Donner sage, meine ich Donner vom Anfang der Zeit, einen Donner, der jeden hier Anwesenden in einem Augenblick die Hörkraft und im nächsten das Leben kosten würde. Die Frau hielt aber nur kurz inne und arbeitete weiter. Da ließ Dondra einen Blitz herniederzucken, einen Blitz über dem Becken, in dem er lag und inmitten des Blitzes erstrahlte das Antlitz des Gottes selbst, damit die Frau auf ihn aufmerksam werde und abließe von ihrem Tun. Doch unverdrossen arbeitete die Frau weiter und wandte nicht einmal den Kopf. Da ließ Dondra einen Hagel prasseln, mit kindskopfgroßen Körnern, die die Sträucher zausten und den jungen Bäumen die Äste zersplitterten und etliche entwurzelten.

Jetzt drehte sich die Frau tatsächlich zu ihm und in ihren Augen stand Strenge und Ernst. Vom Himmel herab stießen zwei Tauben, die sich geradewegs auf die Adler stürzten. Obgleich sie winzig waren wie die Frau und die Adler riesig wie Dondra, begannen die Adler unruhig mit den Flügeln zu schlagen und zu zappeln und schienen sich nicht mehr über Dondra halten zu können und als die Tauben sich pfeilschnell näherten, flohen die Adler der Küste entlang in beide Richtungen. Doch die Tauben stießen ein leises Gurren aus und beide Adler fielen steinschwer zu Boden und zerschmetterten das Land unter sich und so entstanden die Bucht von Beyra und die Bucht von Ksalvod oder auch Buch von Arcant genannt, das in dandairischer Sprache Freistadt heißt. Und Dondra erhob sich aus seinem Becken und erzitterte, nicht vor Wut oder vor Angst, sondern weil er nicht begreifen konnte, was da geschah.

Da begann die Frau zu sprechen: „Dondra, warum zerstörst Du, was ich aufbaue? Warum willst du zerschmettern, was wächst und verwüsten, was entsteht? Ist dies nicht ein Land, das Dir gefällt und das Du unversehrt wissen möchtest?“

Dondra antwortete: „So ist es, oh Herrin, doch sieh, Du pflanztest Bäume dort, wo ich meinen Ruheplatz habe nach dem Bade, daß ich mich nicht mehr hinlegen kann und hast mich nicht gehört, als ich Dich anrief. Sieh außerdem meine armen Adler an, was Du ihnen getan und ihr Sturz hat das Land mehr beschädigt als meine Hagelkörner.“

„Das ist wahr“, entgegnete die Frau ernst. „Aber es ist meine Aufgabe, hier Bäume zu pflanzen, mein großer Junge und die Erde ist hart und nicht zum Ruhen geeignet.“

Ihre Stimme klang süß in Dondras Ohren, süßer noch als Donner und das Brausen der Wogen und so entbrannte er nicht in Zorn, wie er es sonst bei solchen Worten getan hätte, sondern sagte einfach: „Setz Dich, Herrin, auf meinen Lagerplatz und spüre selbst, daß sein harter Boden sanft zu Dir sein kann nach harter Arbeit oder einem kühlen Bad und daß der Staub sich an Deine Haut schmiegt enger als Daunen und für mich ist es der rechte Lagerplatz. Außerdem Herrin, bin ich kein Kind mehr und ich kenne Deinen Namen nicht.“

Die Frau lächelte: „Wisse, Dondra, daß ich Parana heiße und Du dürftest meinen Namen kennen, wenn wir uns auch noch nicht begegnet sind. Und wenn dieser Platz Dir so wichtig ist, dann will ich ihn schätzen lernen. Wenn ich Dich außerdem einen großen Jungen nenne, so meine ich damit nicht, daß Du ein Kind bist, denn ich sehe, daß Du so sehr ein Mann bist, wie nur irgendeiner und kaum jemand Dir gleichkommt unter den Göttern.“ Und sie lagerte sich auf die nackte Erde und stürzte den Kopf auf ihren schlanken Arm.

Schwer legte sich Dondra neben sie. Das Wasser der See troff von seinem Körper und der Boden saugte es auf und wurde ein klein wenig geschmeidiger, ohne wirklich naß zu sein und er lachte, denn Parana gefiel ihm und auch was sie jetzt sagte. Er räkelte sich wohlig und sprach: „Ich habe gar nichts gegen Bäume, schon gar nicht wenn sie aus Dir ersprießen, doch sag, spürst Du nicht selbst, daß dies guter Boden ist und gibst Du nicht zu, daß es auch Lande gibt, wo keine Bäume wachsen sollen?“ Und er griff nach ihrer Hand.

Parana ließ ihn gewähren, denn Dondra hatte wirklich schöne Augen und ein rauhes aber ehrliches Gesicht, dazu die Muskeln eines Bären und außerdem spürte sie, daß es so sein müsse. So erwiderte sie: „Ja, es gibt solche Lande. Aber dies ist keines davon. Wald soll herrschen im Inneren dieses Teils der Erde und nur die Küsten sollen Grasland und Heiden tragen. Es ist so bestimmt.“

Doch Dondra widersprach: „Nicht von mir ist dies bestimmt, denn lieber habe ich dieses Land als jeder andere und keiner hat mehr Recht als ich zu bestimmen, was hier wächst. Pflanze Bäume von Wasser zu Wasser und von jenem Fluß jenseits unserer Häupter bis über den Strom hinweg, der das Silber aus dem Gebirge bringt, doch laß mir diesen Lagerplatz. Ich sehe meine Adler am Boden, denn Du hast ihnen die Kraft geraubt zu fliegen, und ich liege auch hier am Boden und Du willst mir noch mehr nehmen? Nicht billig ist dies und ich werde es nicht leiden.“ Und er lachte vor Trauer, aber auch vor Freude, weil er spürte, die rechten Worte getroffen zu haben und vor Glut für Parana.

Parana aber sprach: „Es liegt auch Wahrheit in Deinen Worten und ich habe Dir mit den Adlern ein Unrecht getan, denn ich vermag nicht, sie wieder fliegen zu lassen. Und so sollst Du diesen Lagerplatz behalten, denn er ist hart und doch zu Zeiten schmiegsam und recht für einen ganzen Kerl wie Dich. Es ist gut, daß wir uns getroffen haben. Vielleicht kann ich dich auch selbst mit dem Unrecht versöhnen.“ Und sie zog ihn an sich.

Mehr als willig folgte ihr Dondra und so lagerten sie dort zwölf Tage und zwölf Nächte, denn Götter waren sie und nicht wie sterbliche Menschen. Sie brauchten keinen Schlaf und keine Rast und Dondra bat all sein Können und seine Kräfte auf, denn er wollte dieser Frau gefallen und nicht von ihr lassen, ihr alles geben, was er vermochte und selbst glücklich dabei werden – und so war er glücklich für zwölf Tage und zwölf Nächte, denn dieser Zeit war ihnen beschieden. Endlich aber löste sich Parana wieder von ihm und sagte: „Nun ist es genug, Dondra, denn mehr als ein Dutzend Kinder soll selbst eine Göttin nicht bekommen.“

Da erschrak Dondra, denn daran hatte er nicht gedacht und gleich gar nicht an eine solche Anzahl und er wunderte sich und sprach: „Aber ein Dutzend Kinder kann niemand gebären, ohne selbst Schaden zu nehmen und es wird auch nicht gut sein für die Kinder.“

Parana aber lächelte. „Du starker Mann, was verstehst Du denn davon? Glaubst Du denn, wir werden gewöhnliche Göttersöhne bekommen, wie Du oder Borgon oder Artan drei an einem Nachmittag zeugen? Nein, die Geburt wird leichter sein als jede andere, denn sie werden Deine Kraft haben und Deine Natur, doch nicht in einem Körper und sie werden leicht sein wie die Luft zum Atmen und dennoch gewaltiger als selbst Du und sie werden Deine Adler das Fliegen wieder lehren. Vertrau mir. Schlaf jetzt ein, mein großer Junge.“

Da entschlummerte Dondra und er sah sich auf eine Woge reiten, mit seinen Kindern hinter sich, die er nicht sehen konnte und die Adler schwebten über ihm und auf seine Lippen zauberte sich ein Lächeln. Als er aber erwachte, war Parana gegangen. Ringsum das Land war ein einziger vielgrüner, blauer und silberner Wald, nur wo er lag, war der rauhe Erdboden, wir er ihn liebte. Einzelne Bäume standen dort dennoch, mit hartem Stamm und weißfahler, verwobener Rinde, die Ihr Kardiokbäume nennt und Dondra erkannte, daß Parana sie aus ihrem Haar geflochten hatte zu Erinnerung und er begann zu weinen, denn er wußte, sie würde nicht wiederkommen. Da aber spürte er ein Streichen auf seiner Haut, das er nicht kannte und blickte auf und sah die Adler über sich, mit seltsamen Bewegungen in der anders riechenden, schmeckenden, sich anfühlenden Luft, doch mit jedem Flügelschlag wurden sie sicherer und Dondra sprang auf vor Freude, jagte hinaus auf die See und die andere Luft folgte ihm, tanzte wirbelte hinter ihm her. Doch lange brauchte Dondra, bis er erkannte, daß dies seine Kinder waren, die mit ihm jagten und daß sie waren der neue frische Atem über Erde und Meer, der den alten Weltenäther ablösen sollte. Doch ist dies eine andere Geschichte.


Denn Dondras Kinder sind, wie ihr wißt, die Zwölf Winde: Fial, die steife Brise, die einen klaren Sonnenaufgang begleitet, Ukel, der frische Morgenwind, Dik, der Aufwind, der die Vögel am Vormittag in grenzenlose Höhen steigen läßt, Of, heiß und verzehrend und an Sommermittagen den Atem nehmend, Anith, das milde Lüftchen des ruhigen Nachmittages, Lychim, der Abendsturm, unberechenbar, der vom Lande herzieht und in einem Moment Blätter und im nächsten Kinder vor sich hertreibt, Perist, das kaum merkliche Säuseln des Sonnenuntergangs, Klad, der Abwind der späten Abenddämmerung, der die Insekten dem Boden und uns den Betten entgegendrückt, Bathir, der gewalttätige Orkan, der wie einst Dondra Äste zersplittert, Bäume entwurzelt,

Machai von Mitternachtswind, der winters den Schnee bringt, Staru, die Eiskalte, die umherstreicht wenn jeder schläft, Thys, der im ersten Licht den Regen bringt und den Reigen wieder Fial in die Hand gibt. Wie sich die Kinder aber untereinander und mit ihrem Vater verstehen und streiten, auch das sind andere Geschichten.


Dondra aber hat Parana nie vergessen, denn obwohl meist er es ist, der die Frauen nach seiner Wahl begehrt und verläßt, weiß er, daß sie ihm alles gegeben hat, was sie ihm gegeben konnte und vielleicht mehr. Mich dünkt es merkwürdig, daß Parana, die von Liebe viel mehr versteht als von Leidenschaft, ihm Leidenschaft schenkte und daß Dondra, der von Leidenschaft viel mehr versteht als von Liebe, Parana geliebt hat – ja, vermutlich hat er durch seine Begegnung mit Parana erst gelernt, daß es die Liebe überhaupt gibt. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Schließlich sind sie Götter. Wer von uns will sich anmaßen, die Götter wahrhaft zu begreifen?