Zusammentreffen

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Gwynn
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Zusammentreffen

Beitrag von Gwynn »

Schließlich pochte es an der Tür. Seine Besucherin war ihm schon angekündigt worden, aber dennoch konnte sich Bruder Brahn einer gewissen Anspannung nicht erwehren. Kurz konzentrierte er sich und fand seine Ruhe wieder. Er öffnete die Tür. Doch diesen Anblick hatte er nicht erwartet. In der Türschwelle stand ein kleines, zierliches Mädchen von etwa 15 Jahren, mit langen, offenbar roten Locken. Oder was davon übrig geblieben war: Die Haare waren verfilzt und über und über mit Schlamm und Schmutz verkrustet. Das gleiche galt auch für den Rest des Mädchens; ihre Bluse war eingerissen und dreckig; und auch ihre Unterröcke, denn die konnte man sehr gut sehen durch die Reste des einst grünen Rockes, den sie trug, waren nicht das, was Bruder Brahn sauber genannt hätte. An den Füßen trug sie lederne Sandalen, deren Schnürung bis zu ihren Knien reichte. Das Mädchen sah aus, als hätte sie soeben ein Bad im Sumpf genommen.

“Seid Ihr Bruder Brahn? Ich bin Numaria, ich sollte bei Euch vorsprechen.” Bruder Brahn zog es die Gehörgänge zusammen; breitester Dialekt, kaum verständlich für Normalsterbliche. Er bedeutete ihr einzutreten. Schmutzbrocken fielen auf den Boden. Numaria ließ ihr Bündel auf einen Stuhl fallen und sah Brahn erwartungsvoll an. “Falls Du Dich erfrischen möchtest, im Nebenraum steht ein frisches Bad für Dich bereitet” bot Bruder Brahn ihr an. “Ohja, wunderbar! Ihr glaubt gar nicht, wie dreckig man sich von dieser langen Reise fühlen kann!” Numaria nahm ihr Bündel auf, ging in den Nebenraum und schloß die Tür hinter sich. Bruder Brahn betrachtete den Fußboden seines Raumes und griff nach einem Besen. “Oh, doch…..”

Der Tee dampfte heiß in den Bechern. Numarias Reisegewänder, oder was davon übrig war, hing zum Trocknen aufgehängt an einer Leine. Zusammen mit ihren Haaren. “Subarashi?” , fragte Numaria, “Nie gehört. Wer oder was ist das?” Sie saßen an einem niedrigen Holztisch und nahmen ihre Abendmahlzeit ein. Numaria hatte ein ausgiebiges Bad genossen und sah nun fast wieder menschlich aus. Wie ein armer Mensch, aber zumindest ein sauberer. Mit offensichtlichem Stolz präsentierte sie ihre Abendgarderobe, um die sie schon so manche Hofdame in ihrer Heimat beneidet hatte. Das Flickwerk war kunstvoll mit Stickereien verborgen; die Stoffe die Kostbarsten, die man im dort finden konnte. Um ihren Hals trug sie eine Kette aus rundgeschliffenen, farbenfrohen Steinen. “Ich dachte nur, wegen der Haare….”, sagte Brahn. “Ach das! Es ist jetzt Mode unter den jungen Leuten, künstliche Haare zu tragen. Normalerweise tragen wir keine Körperbehaarung, ist einfach praktischer, wißt Ihr. All das Ungeziefer… Aber vor allem zu größeren Empfängen tragen die jungen Mädchen jetzt vermehrt künstliche Haare. Gefällt sie Euch?” Numaria zeigte auf die Perücke. “Ganz allerliebst.” Bruder Brahn war schockiert. Dieses Bettlerkind war Numaria ap Mûd-Hût, die Cousine einer Königin? Er schüttelte den Kopf. “Aber sag mir, Numaria, warum willst Du Magierin werden?” Das Mädchen sah ihn erstaunt an. “Was meint Ihr? ‘Wollen’? Wenn die Herrscherin sagt ‘Tu es’, dann macht man es. Magier, Hofdame, jeder muß der Herrscherin dienen. Das ist doch keine Frage! Naja, und die Herrscherin sagte mir ‘Numaria, Du wirst unsere Hofmagierin! Wir brauchen jemand, der uns mit Magie beschützen kann, und Du hast das Talent dazu.’ Und wer bin denn ich, um die Wünsche unserer Herrscherin in Frage zu stellen!” Numaria trank einen Schluck Tee. “Das hätte ich jetzt fast vergessen, ich habe einen Brief von der Herrscherin an Euch!” Das Mädchen sprang auf und kramte ein wenig in ihrem Bündel herum. “Hier!” Mit einer Bewegung, die dort wo sie herkam anscheinend als grazil galt, händigte Numaria die Schriftrolle Bruder Brahn aus. Brahn überflog kurz die in spinnengleichen Lettern verfasste Botschaft.

“Wie alt bist Du, Mädchen? Denkst Du, Du bist den Strapazen gewachsen?” Die Augen der Hofdame begannen zu strahlen. “Schon 19.”, sagte sie. “Ich bin nur noch knapp ein Jahr von meiner prima entfernt!” Offenbar war dies bedeutsam. “Prima? Was ist das?”, fragte Brahn. “Meine prima noctis. Wenn ich zur Frau erklärt werde, und mich die Herrscherin initiiert!” “Initiiert? In was?” Bruder Brahn biß sich auf die Lippen. Dummkopf! Doch es war zu spät, die Tore waren geöffnet. “Na, in die Kunst der Liebe, natürlich! Zuhause haben wir die prima noctis, wenn die Herrscherin persönlich die jungen Mädchen an ihrem 20ten Geburtstag zur Frau macht! Das ist ein ganz wichtiger Tag im Leben eines Mädchens, findet Ihr nicht? Wir feiern ein großes Fest; alle Verwandten kommen und bringen Geschenke.” Numaria strich die Falten ihrer Bluse glatt; Bruder Brahn wandte seinen Blick ab. “Und neue Kleider. Jedes Mädchen erhält neue Kleider, und spezielle Kleider für die Zeremonie. Da gibt es Kleider für den Auftakt ….” Bruder Brahn ohrfeigte sich innerlich, als er ihren Redeschwall über sich ergehen ließ; all dies wollte er gar nicht wissen. Diese Menschen waren anscheinend ein ganz besonderes Volk. Und natürlich war dieses Fest für das Mädchen das größte Ereignis ihres jungen Lebens. Er wünschte nur, sie würde aufhören, an ihrem Kleid herumzuspielen.

Bruder Brahn verstand, daß, wer in ihrem Land überlebte und trotzdem noch solche Energie und Erwartungsfreude für ein Fest aufbrachte, welches in ein, zwei Jahren gehalten würde, wahrscheinlich auch den Willen aufbrachte, die Magierschulung zu überstehen. Hatte sie auch genügend Talent?

“Was glaubst Du, wirst Du mit der erlernten Magie anfangen?”, fragte Bruder Brahn. “Die Herrscherin hat gesagt, wir müssen der Herrscherin dienen. Der Herrscherin und dem Volk. Vor allem jetzt, wo anscheinend jeder ein Stück von unserer Heimat haben will. Und sie sagte ‘Du wirst uns mit Deiner neuen Magie schützen, Numaria! Dir allein ist das Talent gegeben. Du wurdest im Orakel geweissagt. Deine Geburt wurde von den Sternen vorhergesagt. Am Tag Deiner Geburt blühten die Sumpfrösseln auf. Du, als einzige, hast die Kraft, die Natur zu bändigen und uns nutzbar zu machen. Verweigere Dich nicht Deiner Bestimmung!’ Und deshalb bin ich jetzt hier.”

Es war spät geworden. Bruder Brahn erhob sich. “Warum gehen wir jetzt nicht zu Bett, Numaria? Laß uns morgen über alles reden; und eventuell können wir Dich zur Schulung aufnehmen.” Brahn führte das Mädchen in das Gästezimmer und zog sich dann in sein Schlafgemach zurück. Und Numaria ap Mûd-Hût, designierte Hofmagierin, lag noch lange wach auf ihrer Bettstatt und dachte an ihrer geliebte Heimat und wie sie helfen würde, sie zu bewahren, mit der Magie, die Bruder Brahn ihr lehren würde.

(Bote von Corigani 65)