Verhandlungsangebot

Das vierte Segment Myras war eine lange Zeit das reichste und aktivste. Im Moment ruht es, aber das sollte nicht auf Dauer so bleiben.
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Gwynn
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Registriert: Do Aug 08, 2024 9:10 pm

Verhandlungsangebot

Beitrag von Gwynn »

Es war die kälteste Stunde der Nacht; Hundewache; kurz bevor die Sonne aufging und wieder die Ebenen versengen würde. Noch überzog kein rosiger Schimmer den Horizont, aber bald... Es versprach, ein herrlicher Tag zu werden.
Der Mann in Chaz-Ashdairischer Offiziersuniform ging ruhig den dunklen Gang entlang; er bemühte sich, zu hyper-ventilieren, damit er wie in Eile erschien. Die Wachen am Eingang des Palastes wollten ihn zuerst nicht einlassen, aber einen stummen Blick und ein paar scharfe Worte später hatten sie ihn dann doch passieren lassen. Der ehemalige Palast des Thaern war ein Abfallhaufen, fast wie ein Schlachtfeld. Die Toten der vorhergehenden Gelage lagen immer noch in seinen Gängen verteilt, überaus kunstfertig und kreativ verstümmelt und in den verschiedensten Stadien des Verzehrs und der Verwesung. Niemand hatte auch nur einen kurzen Gedanken daran verschwendet, sie vielleicht mal aufzuräumen. Die Ratten freut's, dachte der Mann. Er zwickte sich nochmal kurz in die Wangen, um auch die nötige Röte von Eile zu erzielen; er war jetzt vollkommen außer Atem. Sehr gut.
Er rundete die Ecke des Ganges und schritt eilig auf die Tür zu. Zwei Mörderbienen hielten gelangweilt Wache vor der Kammer, die sein Ziel war. Gelangweilt? Können Mörderbienen gelangweilt sein? Mistviecher. Nun gut, immerhin bin ich Heerführer in Orrghunas Heer....; denk' nur immer dran! "Öffnet die Tür, Wachen, und laßt mich vor zu Orrghuna, unserer Herrscherin!"
Der Mann legte seine ganze Autorität in diesen Befehl.
Facettenaugen funkelten ihn an. Neugierig? Teilnahmslos? Wissend? Verflucht seien diese Biester, dass man sie auch gar nicht lesen kann! "He, was ist? Habt Ihr nicht gehört? Ich muß mit Orrghuna sprechen!" Keine Antwort. Kein Blinzeln der Facettenaugen.Na gut, dann muß ich eben in meine Trickkiste greifen. Der Mann konzentrierte sich kurz auf den Insektenverstand der Bienen, drang in ihn ein und ersetzte den gespeicherten Befehl mit seinem eigenen. "Hör' mir gut zu, du faules Rieseninsekt! Ich habe hier eine Eilbotschaft aus Ashdaira, und wenn du mich nicht auf der Stelle zu deiner Herrin vorläßt, dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass du morgen in der Mittagshitze quer durch das Heer gefolterst wirst! Und danach röste ich deinen Chitinkadaver höchstpersönlich an meinem Lagerfeuer! Hast Du mich verstanden!" Ob die Biene verstanden hatte, oder ob sie auch nur annähernd von seinem Redeschwall beeindruckt war, fand er nie heraus. Allerdings machte sie Anstalten, die Tür zu öffnen.
Doch diese öffnete sich plötzlich von selbst, und eine verschlafene Orrghuna trat in den Gang hinaus. Sie war vollkommen unbekleidet, haarlos. Nett, dachte der Mann, wie einfach! "Gnnn, wasissdennhierlos?" brachte die Hexe hervor.

Der Mann trat einen kleinen Schritt auf sie hin. "Orrghuna, ich bringe eine Eilbotschaft von der Front! Die Ashdairer wollen offenbar verhandeln!" Mit diesen Worten griff er in seinen linken Ärmelaufschlag und brachte eine Pergamentrolle zum Vorschein. Allerdings auch einen langen Dolch, den er mit Präzision in Orrghunas Kehle versenkte. Ein Röcheln. Ob Giftresistenz oder nicht, sagt uns bald das Licht, ging dem Mörder nur kurz durch den Kopf, als er die allgemeine Apathie ausnutzend, den langsam zusammenbrechenden Körper seines Opfers zurück in die Kammer drückte und hinter sich die Tür verriegelte.
Der Dolch war mit seinem besten Gift bestrichen gewesen, und er hatte die Kehle der Frau voll getroffen, aber bei einer
Hexe konnte man nie wissen. Also machte er sich noch schnell daran, das Herz und die Lunge der Frau mit drei schnellen Stichen zu zerstören. Ob die Mörderbienen der Wache inzwischen Alarm geschlagen hatten, war nicht festzustellen. Waren sie so intelligent, festzustellen, dass er den Raum betreten hatte? War sein eigener Befehl stärker als der der toten Frau? Mit diesen Fragen könnte er sich später in seiner stillen Kammer befassen, hier wartete noch etwas Arbeit auf ihn. In der Ecke des Zimmers erspähte der Mörder eine Handaxt, mit der er noch zusätzlich Orrghunas Kopf vom Rumpf trennte. So, das sollte genügen. Den Kopf warf er in den brennenden Kamin. Vom Gang her hörte er scharfe Befehle und schließlich ein Pochen an der Tür. Auftrag erledigt, also nix wie weg; und mit schnellen Bewegungen war er aus dem Fenster geklettert.
Hoch. Das Pochen an der Tür wurde energischer, und er hörte Rufe nach einer Axt. Zeit, von hier zu verschwinden. Erste Morgenröte überzog den Horizont; das Heerlager begann sich langsam zu rühren; ein Summen hub an und erfüllte langsam die Luft. Bei der Großen Göttin! In Windeseile begann er seinen Abstieg. Zum Glück war der Palast nur aus verfugten Steinquadern erbaut; es waren also genügend Griffe vorhanden. Wenn ich nur den sicheren Boden erreichen kann, bevor diese Mistviecher hier rumfliegen, dann habe ich schon fast gewonnen....